Im Jahr 2023 wäre der große Heidelberger Serner-Forscher Thomas Milch 70 Jahre alt geworden. Viel zu früh starb er am 15.10.1997 nach kurzer Krankheit. Mit unfassbarem Fleiß trug er sämtliche erreichbaren Informationen zu dem bis dahin weithin unbekannten Walter Serner zusammen, sammelte seine Veröffentlichen in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften und gab schließlich alle Werke und Dokumente in einer bis heute maßgeblichen Gesamtausgabe heraus.
Seine 1978 der neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg vorgelegte Magisterarbeit „Der Schriftsteller Walter Serner und sein Anteil an der Dada-Bewegung“ beginnt mit den Worten: „Das Thema dieser Arbeit bedarf zunächst einer Erklärung, denn der Schriftsteller Walter Serner ist heute werde einem breiten Leserkreis noch einem Fachpublikum in nennenswertem Umfang bekannt – dabei war er eine legendäre und eine der faszinierendsten Gestalten in der Literatur der Zwanziger Jahre.“ Den Stand der damaligen Forschung und Sekundärliteratur zu Serner fasste Milch wie folgt zusammen: „nicht existent“.
(Bild: Thomas Milch 1980, mit freundlicher Genehmigung von Ruth Milch; ebenso die Magisterarbeit von 1978; herzlichen Dank nach Heidelberg an die Bibliothek des Germanistischen Seminars und insb. an Frauke Handschuh!)
Dank Thomas Milchs unermüdlichen Arbeit konnte schon elf Jahre später zum 100. Geburtstag Serners 1989 davon keine Rede mehr sein: Serners Werk war komplett neu aufgelegt und mit umfangreichen Materialien zu Leben und Werk veröffentlicht worden, zuletzt sogar in einer preisgünstigen 10-bändigen Kassette im Taschenbuchformat.
Die fruchtbare Zusammenarbeit mit seinem Schwager Klaus Renner, in dessen Verlag ab 1976 nach und nach Serners Gesamtwerk erschien, war ein absoluter Glücksfall. Bis dahin waren lediglich wenige Serner Texte neu aufgelegt erschienen, etwa 1964 die „Letzte Lockerung“ (1927) und „Zum blauen Affen“ bei Renate Gerhard in Berlin sowie „Die Tigerin“ 1970 und „Der elfte Finger“ 1971 bei Rogner & Bernhard. In der Tigerin von 1970 hatte Christian Schad, der berühmte Maler der neuen Sachlichkeit und von 1915 bis 1927 Serners engster Freud, umfangreiche Erinnerungen an Serner unter der Überschrift „Relative Realitäten“ veröffentlicht. Im Sommer 1976 erschien schließlich bei dem – wie Milch schreibt [1] – „noch völlig unbekannten Erlanger Kleinverlag von Klaus Renner“ eine Faksimile-Ausgabe des Dada-Textes „Letzte Lockerung“ von 1920.
[1] Thomas Milch, Eine kuriose Karriere, in: Puff-Trojan/Schmidt-Dengler (Hrsg.), Der Pfiff aufs Ganze. Studien zu Walter Serner, Wien 1998, S. 98, 103.
(Bild: Thomas Milch auf einer Schad-Ausstellung im August 1997, mit freundlicher Genehmigung von Ruth Milch)
Thomas Milch schreibt weiter[2]: „Damit begann eine Zeit intensiver Gespräche und mühsamer Nachforschungen, die zu weiteren Projekten führte… Im Herbst 1978 war meine Magisterarbeit fertig und ich war ebenso wie Klaus Renner bereit, mich auf das inzwischen längst diskutierte und von Christian Schad mit sanfter Beharrlichkeit inspirierte Wagnis einer Serner-Gesamtausgabe einzulassen.“
Das Wagnis fiel in eine Anfang der 1980er Jahre von Milch, Schad und Renner mit inspirierte Serner-Renaissance unverhofften Ausmaßes. Taschenbuchausgaben von Serners erotischen Kriminalgeschichten erreichten bis zu fünf Auflagen mit insgesamt 50.000 Exemplaren, zahlreiche Artikel über Serner erschienen in der Zeit, dem Spiegel, der Süddeutschen und der FAZ, sein Theaterstück „Posada“ wurde wieder aufgeführt und die Wahrheit über Serners Verschwinden kam an den Tag. Die von Milch betreute Gesamtausgabe Serners Schriften wurde – zu Recht – als „verlegerische Großtat“ gepriesen.
[2] Thomas Milch, aaO, auch zum Folgenden]
Die 1980er Jahre wurden dank Thomas Milch zu dem Jahrzehnt der Serner-Wiederentdeckung. Alleine von der (auch in der DDR neu aufgelegten) Tigerin verkauften sich 150.000 Exemplare. Serner wurde überwiegend von einem alternativen und studentischen Lesepublikum rezipiert und galt bald als (auch von Raubdruckern geschätzter) Kultautor. Das Jahr 1989 markierte den fulminanten Höhepunkt der Serner-Renaissance: Im Literaturhaus Berlin gab es eine hochgelobte Ausstellung zu Serner, die Gesamtausgabe wurde mit der bereits erwähnten 10-bändigen Taschenbuchausgabe einem breiten Publikum erschlossen (so kam auch ich zu Serner) und weitere Veranstaltungen und Feuilleton-Artikel erinnerten an Walter Serner. In den 1990er Jahren wurde es deutlich ruhiger um ihn. Weitere wissenschaftliche Arbeiten erschienen und Thomas Milch schloss die Werkausgabe mit einem Ergänzungsband („Krachmandel auf Halbmast“) 1992 ab.
Dem letzten von ihm veröffentlichen Text „Eine kuriose Karriere“ zur Serner-Rezeption seit 1945 in dem von Andreas Puff-Trojan und Wendelin Schmidt-Dengler herausgegebenen Sammelband „Der Pfiff aufs Ganze. Studien zu Walter Serner“ (Wien 1998) stellte Thomas Milch noch eine umfassende Bibliografie von und zu Serner aus den Jahren 1945 bis 1995 zur Seite - eine letzte Großtat.
Armin Abmeier schrieb im Nachwort dieses Thomas Milch gewidmeten Bandes: „Thomas Milch, der im Verlag Klaus G. Renner mit der Veröffentlichung einzelner Serner-Titel begonnen hatte und 1978 seine Magisterarbeit über Serner veröffentlichte, machte die Suche nach dem Verschollenen und seinem Werk zu seiner Herzensangelegenheit. Die Spurensuche war nach den vielen Jahren seit seinem Verschwinden sehr schwierig. Die Hinweise in der Literatur der Zeitgenossen und in den Literaturlexika führten meist in die Irre. Um so erstaunlicher ist es, welche Menge an Dokumenten und Informationen Thomas Milch ohne jede finanzielle Unterstützung für die von ihm herausgegebene Serner-Gesamtausgabe und den Nachtragsband gesammelt hat…
Thomas Milch hat als Herausgeber der Werkausgabe und als Serner-Forscher immer die Dokumente sprechen lassen und sich aller Spekulationen enthalten. Er hat den spekulativen Umgang mit Person und Werk Serners nicht verhindern können, aber mit seiner Arbeit und den Auskünften aus seinem ‚Walter-Serner-Archiv‘ einer sachlichen weiteren Forschung wichtige Grundlagen gegeben. Ohne seine obsessive Forschungsarbeit hätte das Werk Walter Serners nicht seine große Wirkung entfalten können.“
Die 2022 gegründete Internationale Walter Serner Gesellschaft e.V., die aus der seit 2013 bestehenden Berliner Walter Serner Gesellschaft hervorgegangen ist, wäre ohne die beharrliche Arbeit von Thomas Milch nicht denkbar. Ganz in seinem Sinne und in Fortführung seiner Arbeit will sie die Forschung zu Walter Serner fördern, Serners Werke verbreiten und die Person Serners dem drohenden Vergessen entreißen. Dem großen Serner-Forscher Thomas Milch gebührt all unser Dank, wir werden ihn und sein unvergleichliches Werk nie vergessen!
Berlin, im November 2023
Prof. Dr. Andreas Mosbacher
Präsident der Internationalen
Walter Serner Gesellschaft e.V.